Textauszug: Wachsende Ringe
An meinem 70.Geburtstag hatte ich die Idee, mein Leben aufzuschreiben.
2001 hatte ich das Schriftstück "Wachsende Ringe" in der Hand.
Diese Aufzeichnungen können Sie hier lesen.
An einem Sonntag erblickte ich das Licht der Welt.
Es war der 14. September 1930.
In Tieschen, Bezirk Radkersburg, nahmen mich meine Eltern, Hans und Angela Raber, in Empfang.
Mein Bruder Hans war ein Jahr und drei Monate älter als ich. Hans bekam den Rufnamen „Burli“ und ich war die „Mausi“. Wir waren Lehrerkinder. Die ersten sechs Lebensjahre lebten wir in Tieschen. Ganz wenige Erinnerungen reichen in diese Zeit zurück. In Mettersdorf wurde die Direktorstelle an der Volksschule frei. Mein Vati nahm sie an
und wir übersiedelten dorthin. Meine erste klare Erinnerung habe ich von der Übersiedlung:
Ich bekam Blumentöpfe aus Ton in die Hand und sollte sie ins Haus tragen. Sie fielen mir
hinunter und ich weinte. In Mettersdorf wurden wir überaus wohlwollend aufgenommen. Im Laufe der Jahre brachte es mein Vati auf über 25 „Ämter“. Er war Kirchenchorleiter, Standesbeamter, Bienenvereinsobmann und so weiter. Wir wohnten in der Schulleiterwohnung im Schulgebäude. Die Räume waren sehr hoch. Da gab es ein schmales Zimmer da schlief unser Dienstmädchen, die Mitzi aus Wagendorf. Sie war eine kleinwüchsige Frau, die von da an zu unserer Familie gehörte.
Wir Kinder hatten zu ihr mehr Vertrauen als zu unseren Eltern. Vor denen hatten wir großen Respekt. Im Herbst 1936 kam Bruder Heribert zur Welt. Er war Mitzis ganz großer Schatz.
Unsere Mutti hatte einen Herzklappenfehler und war meistens schonungsbedürftig.
Vati hatte als Bauernsohn eine gute Hand für den Garten und für seine vielen Bienenstöcke.
Alles wuchs, blühte, grünte und fruchtete ganz prächtig! Goldener Honig rann aus der Schleuder. Bienen-Gesummse ruft bei mir noch heute Heimat- und Kindheitsgefühle hervor.
Jedes von uns Kindern hatte ein Stück Erdbeerbeet. Einmal ließ ich mich von den großen, roten Früchten auf den anderen Beeten verlocken. Strafende Laute vom Balkon
herunter, und ich schämte mich sehr.
Schulbeginn
Die Erinnerungen an den Anfang meiner Schulzeit sind getrübt. Meine Lehrerin war sehr, sehr streng. Meine Schrift war ihr nie schön genug. Einmal schlug sie mir deswegen mit dem Stock auf die Finger. Sie schlug mit aller Kraft und mir war, als wollte sie gar nicht mehr aufhören zu schlagen.
Das war der intensivste Schmerz meines Lebens. Ich hasste diese Lehrerin. Damals war Prügelstrafe an der Tagesordnung. Angst vor Strafe war unser ständiger Begleiter. Ich war ein sehr phantasiebetontes Kind. Immer, wenn es mir möglich war, verkroch ich mich auf dem Dachboden und baute dort mein Reich auf; mit Raupen und Schmetterlingen, mit Büchern und Bildern, mit Schreiben von Gedichten. Es ist mir gelungen mein Dachbodenreich vor allen Familienmitgliedern zu verheimlichen. Als ich Rollschuhe bekam, sauste ich die langen Schulgänge entlang. Ich war eine gute
Turnerin. Im Hof hatten wir eine Sprunggrube und ein Reck. Ich konnte die Kniewelle, die
Sitzwelle und den Rückenaufzug. Es tat mir wohl, wenn ich dafür bewundert wurde. Immer, wenn
Besuch im Anzug war, wirbelte ich selbstbewusst auf dem Reck, in der Hoffnung Aufsehen zu erregen. Winter in Mettersdorf war etwas Großartiges. Ich erinnere mich an riesige Schneemassen. Die ausgeschaufelten Wege zum Brunnen und zum Komposthaufen im Schulhof waren wie
Schluchten. Die Zeit zum Schlittenfahren war genau vorgeschrieben. Einmal verspäteten wir
uns. Ich spüre heute noch mein schlechtes Gewissen und die Angst vor Strafe.
Weihnachten
Unbeschreiblich schön war Weihnachten. Ein riesengroßer Christbaum, der am Boden stand und bis an die hohe Decke reichte, war Inbegriff an Schönheit. Im Laufe eines Jahres gab es kaum Geschenke, aber Weihnachten war das große Fest der Geschenke und des guten Essens.
Am Heiligen Abend aßen wir immer gebackenen Fisch und Christkindlsalat. Das Rezept dafür wurde weitervererbt. Es geht weit in die mütterliche Ahnenreihe zurück. Kartoffeln, rote Rüben, Linsen, Käferbohnen, Zwiebel, Äpfel, Nüsse, saurer Fisch und Zitronensaft wurde mit viel Feingefühl vermischt. In der Erinnerung habe ich mich jedes Weihnachten daran überessen.
Vati - Mutti
Mein Vater, der aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen kam, hatte es in dieser Familie mit gehobenem, bürgerlichem Lebensstil nicht leicht. Irgendwie war er nie gut genug für die edle Schönheit, die meine Mutti ausstrahlte. Meine Mutti war eine Fischgeborene. Sie hatte Zugang zu Astrologie, Literatur, Kunst, Gartenarchitektur, Botanik, Musik und dergleichen.
Als mein Bruder Heribert zu laufen begann, war „Kinderschauen“ meine Aufgabe. Ich schleppte ihn dauernd herum, sodass meine Eltern besorgt sagten: „Die Mausi geht schon ganz schief!“ Tante Hilde, Muttis Schwester, hielt mir später vor: „Du bist aufgewachsen wie eine Prinzessin.
“ Ich selbst empfand das nur zum Teil so. Ich sehnte mich nach Zuwendung und Zärtlichkeit,
nach vertrauensvollen Gesprächen. Doch das war zu dieser Zeit allgemein nicht üblich.
Dafür wurde großer Wert auf die Erziehung gelegt. Mein Vati sprach seine Eltern mit „Sie“ an.
Unser Respekt ließ kaum eine Umarmung zu. Über Gefühle und intime Themen wurde nicht gesprochen. So kam es, dass ich in zwei Welten aufwuchs, in der realen Kinderwelt mit
strengen Regeln und Angst vor Strafe und andererseits in meiner geheimen Phantasiewelt.
Einmal, in einer lauen Sommernacht, badete ich in einer blechernen Sitzbadewanne,
die im Hof für warmes Gießwasser stand und tanzte dann nackt mit dem Badetuch im
Mondschein. Plötzlich entdeckte ich, dass mein Vati mich vom Balkon aus beobachtete.
Ich war sehr erschrocken und schämte mich. Ich schrieb Hefte voll mit Gedichten über den
Mond und die Wolkenspiele, über Tiere und Blumen, über Menschenleid und Menschenfreude,
über die Sehnsucht meiner Seele und über Gott. Weil im Außen kaum Gespräche möglich waren,
über Dinge, die mich innerlich beschäftigten, begann ich mit mir selbst zu sprechen und zu
verhandeln. Ich hatte eine starke moralisch religiöse Seite, die immer Oberhand behielt,
wenn sich eine winzige rebellische Seite zeigte. Was noch immer siegte, war mein inneres
tapferes Mädchen. Jederzeit war ich bereit um Mitternacht auf den Friedhof oder in den
dunkelsten Wald zu gehen. Das machte allgemeinen Eindruck. Mit meinen Gedanken und Selbstgesprächen beschäftigt, merkte ich kaum, dass sich die politische Lage änderte.
Politik
Eines Mittags saßen wir im Wohnraum und aßen gerade Pudding zur Nachspeise. Im Nebenzimmer lief das Radio. Ganz plötzlich sprangen meine Eltern auf und setzte sich mit der Puddingschüssel in der Hand ans Radio. Irgendetwas musste passiert sein. Meiner Mutti rannen die Tränen über die
Wangen. Es war Schuschniggs Abschiedsrede: „Gott schütze Österreich!“ Mit meinen acht
Jahren war ich politisch ungebildet und uninteressiert. Was war das, was meiner
Mutti so zu Herzen ging? Ich habe sie nur das eine Mal weinen sehen. Österreich hatte zu existieren aufgehört. Wir lebten jetzt im großdeutschen Reich. In einem kleinen Dorf, wie Mettersdorf,
waren es der Bürgermeister, der Pfarrer und der Schulleiter, die das kulturelle,
geistige und politische Leben im Ort regelten. Nachdem Österreich mit „Ja“ zum Anschluss gestimmt hatte, wurde manches anders. Meine Eltern diskutierten, was da politisch geschah und ob es Sinn gehabt hätte, mit „nein“ zu stimmen. Plötzlich waren wir im Krieg. Wir Kinder schepperten begeistert mit den WHW- Blechbüchsen. Das Winter- Hilfs- Werk brauchte Geld. In der Schule strickten
wir Socken, schnürten Pakete und schrieben glühende Briefe: „Lieber unbekannter Soldat!“
Große Aufregung im Dorf: Der Führer kommt nach Graz! Jedes von uns Mädchen beneidete jene, die dieser strahlenden Führergestalt Blumen überreichen durfte. Ich durfte nicht einmal dabei sein.
Schule in Graz
Für mich kam ein tiefer Einschnitt: Ich sollte mein geliebtes Mettersdorf verlassen und in Graz die Mittelschule besuchen. Meine Eltern und Großeltern sparten eisern und konnten sich schließlich
in Graz ein Haus kaufen. In diesem Haus, im ersten Stock hatten mein Bruder Hans und ich ein
kleines schmales Zimmer, in dem gerade zwei Betten Platz hatten. Die Möbel waren erbsengrün lackiert. Der Parkettboden musste stets eingelassen und spiegelblank poliert werden.
Tante Hilde, Muttis Schwester, war überaus streng, sie war früher Erzieherin in einem
schwer erziehbarem Heim. Sie nahm ihre erzieherische Aufgabe sehr ernst- lieber
würde ich sagen „brutal“. Vorbei war die Freiheit und Unbeschwertheit. Ich fühlte mich wie ein gefangener Schmetterling. Es gab nur mehr harte Pflichten. Einmal vergaß ich mein Schulkleid
auszuziehen. Die Schläge waren schrecklich. Der Zugang zu meinem goldenem Phantasiereich
war versperrt. Ich war sehr, sehr traurig. Zwischen meinen Großeltern und Tante Hilde
gab es fast täglich lauten Streit. Ich verkroch mich in meinem Bett oder hielt mir die Ohren
zu, wenn das Gewitter losbrach. In der Nachbarschaft gab es einige gleichaltrige Kinder.
Mein Bruder Hans und Liesl vom Nachbarhaus liebten Verstecken spielen im Dunklen.
Wir hörten, wie sie sich küssten. Ich hatte nur Ablehnung vor Körperkontakt.
Ich machte diese Spiele nicht mit. In Mettersdorf gab es einen Schüler für den ich eine Schwäche hatte. Mehrmals am Vormittag setze sich mein Vati zu ihm, um ihm zu zeigen, wie man aus einer Zahl die Quadratwurzel zieht. Für die Aufnahmeprüfung in eine höhere Schule musste er das lernen.
Mein Vati war ein ausgezeichneter und von Mädchen und Burschen verehrter Lehrer.
Ein wenig waren alle in ihn verliebt. Ich auch. Ich weiß heute nicht mehr, wie es geschah,
das jedes Mal, wenn sich mein Vati diesem Schüler zuwandte, eine Welle von Sehnsucht
und Wärme über mir zusammenschlug. Viele Jahre pflegte ich dieses Gefühl, das für mich
Inbegriff von Liebe war. Ich bin mir nicht sicher, ob der Schwarm für diesen Schüler nicht
insgeheim mein ungestilltes Verlangen nach liebevoller Zuwendung durch meinen Vater war.
Der plötzliche Umschwung brachte es mit sich, dass wir häufig Uniform tragen mussten:
Dunklen Rock, weiße Bluse, schwarzes Dreieckstuch, das von einem hellbraunen
geflochtenen Lederring zusammengehalten wurde.
In der Schule in Graz war Sport ganz im Vordergrund. Unsere Sprünge, Würfe, Läufe wurden
ständig gemessen und die Werte in Tabellen eingetragen. Fast ehrfurchtsvoll wurde
von der Gruppe, zu der ich gehörte, von der FA- Gruppe gesprochen.
Erst Jahre später fand ich heraus, was FA hieß: Führer- Ausbildung.
Wenn ich in den Ferien nach Mettersdorf kam, war nichts mehr wie früher.
1940 kam Schwester Irmi zur Welt. Ich fühlte mich unbeachtet und überflüssig. Es freute sich niemand, wenn ich nach Hause kam. Einmal fuhr kein Autobus, sodass ich zwei Stunden zu Fuß gehen musste. Erschöpft und ausgehungert kam ich an. Es gab kein Essen und kein gerichtetes Bett für mich. Ich war tief enttäuscht und traurig.
Die politische Lage wurde immer schwieriger. Meine Eltern waren sehr religiös eingestellt
und besuchten jeden Sonntag die Messe. Da gab es in Mettersdorf einen Ortsgruppenleiter,
der gerne Direktor geworden wäre. Der brachte das Thema ins Rollen. Meine Eltern wurden vor die Alternative gestellt, die Gottesdienste am Sonntag zu meiden oder Mettersdorf zu verlassen.
Dem Glauben untreu zu werden kam nicht in Frage.
Übersiedlung ins Burgenland
So übersiedelten wir ins Burgenland, in die Heimat meines Vaters. Für mich war es schön, wieder am
Land zu leben. Wie gerne ließ ich die Stadt und die strenge Tante hinter mir. In einem kleinen, alten Bauernhaus in Rohrbrunn fanden wir Unterschlupf. Mein Vati begann sogleich ein sogenanntes
„Behelfsheim“ zu bauen. Hinter dem Haus auf der Wiese war unser Ballspielplatz. Ein
Stück weiter war da ein Tümpel mit einer Quelle ohne Abfluss. Im Sumpf standen viele
hohe Erlenbäume und Traubenkirschen. In diesen Erlenbäumen fand ich ein Stück meines Phantasie-Reiches wieder. Ich kletterte in die höchsten Wipfel. Ich schaukelte und jauchzte mit dem Wind.
Der Geruch von blühenden Traubenkirschen erinnert mich immer noch an meinen geliebten Erlenbaumplatz.
Der Besuch der Mittelschule in Fürstenfeld war schwierig, Täglich mußten mein Bruder
und ich eine halbe Stunde mit dem Fahrrad zum Bahnhof Burgau fahren. In Bierbaum
stiegen wir in den Fürstenfelder Zug. Langsam gewöhnten wir uns an das Fahrschülerdasein.
Es war Krieg. Schläuche und Mäntel für unsere Fahrräder waren nicht zu bekommen.
Im Laufe der Zeit wurde ich Meister im Patschen picken.
Schwester Grete wurde 1942 geboren. Wir waren jetzt eine zehnköpfige Gruppe: Meine Eltern,
wir fünf Kinder, Mitzi, die gute Seele und Mutterersatz, Rosl aus Mettersdorf,
Muttis Firmling und Bärbel, ein Flüchtlingsmädchen aus Siebenbürgen.
Muttis Unfall
Meine Mutti hatte einen schweren Unfall. Am Baugerüst kippte ein Brett und sie hatte einen komplizierten Knöchelbruch. Es zerschnitt mir fast das Herz, wenn ich sie wochenlang im Krankenhaus leiden sah. Ein Nagel war durch ihren Knöchel getrieben, an dem zur Streckung
schwere Gewichte gehängt wurden. Was war meine Mutti doch für eine starke
Frau! Von Kindheit her hatte sie ein Loch in der Herzklappe. Trotz dieses kranken
Herzens hat ihre Herzenskraft uns sechs Kindern das Leben geschenkt.
Fast alle Spitalsärzte waren an der Front. So kam es, dass der Knöchel falsch zusammenwuchs
und nochmals gebrochen werden musste. Er kam nie wieder in Ordnung.
Meine Mutti ging mit Krücken und hatte in einer Eisenschiene einen ganz dünnen rechten Fuß.
1944, als meine Mutti im Fürstenfelder Krankenhaus lag, musste ich auch dorthin.
Meine Mandeln mussten heraus. Ohne Narkose metzelte ein Arzt endlos lange in meinem Hals herum! Bevor ich in den Operationssaal gebracht wurde, ließen sie mich nackt auf dem Wagen liegen. Einen jungen holländischen Arzt beeindruckte anscheinend mein 14-jähriger Körper.
Er hielt bei meiner Mutti um meine Hand an. Ein bisschen stolz machte mich das schon.
Großes Interesse an Männern hatte ich aber nicht.
Der Schulbesuch wurde zur Farce.
Kurz nach acht Uhr heulten die Sirenen, alle Klassen drängten sich in den Luftschutzraum.
An Lernen war nicht zu denken. Eines Tages kamen zwei Professoren nicht mehr.
Sie hatten sich das Leben genommen, weil sie beim Schwarzhören erwischt worden waren.
Die Bombenangriffe wurden häufiger. Oft mussten wir zu Fuß die Schienen entlang
gehen, weil die Gleise Bombenschaden hatten. Wochenlang gab es kein Brot zu kaufen, weil
der Transport bombardiert worden war. Hunger gelitten habe ich nur in der Stadt.
Bei uns am Land gab es immer irgendwas zu essen.
Vatis Eltern
Mein Großvater hatte eine Landwirtschaft. Dieser große, hagere Mann, der bei jeder
Aufregung stark stotterte, hatte ein gutes Herz. Er brachte uns köstliche Äpfel von seinem
Obstgarten. Er lehrte mich Kühe melken. Wenn er von seiner Frau etwas wollte,
dann rief er: „Muida!“ Das war seine zweite Frau. Vatis Mutter war schon sehr früh an Lungentuberkulose gestorben. Eigentlich war es eine Lungenentzündung,
die sich meine Großmutter durch kaltes Trinken im Keller geholt hatte. Mein Vater war
damals erst fünf Jahre alt. In der Nazizeit wurde viel Ahnenforschung betrieben.
Auch wir mussten in der Schule unseren Stammbaum erforschen.
Die Ahnenreihe von meiner Großmutter väterlicherseits geht weit zurück, bis zu
einem gewissen Hopizan, der etwas wie ein Zigeunerfürst war. Dieses Zigeunerblut
spüre ich in mir und bin stolz darauf.
Meine Erd- und Naturverbundenheit habe ich von meinen bäuerlichen Ahnen. Mein
Kunst- und Naturverständnis kommt von der mütterlichen Seite. Diese bürgerlichen Ahnen
kommen aus Cilli, der damaligen Untersteiermark, heute Slowenien.
Das Kriegsgeschehen ging seinem Höhepunkt und Ende entgegen.
Onkel Luisl
Mein Lieblingsonkel Luisl, Vatis Halbbruder, kam von einem Griechenlandeinsatz nicht
mehr zurück. Er fuhr mit seinem Motorrad in der Kolonne auf staubiger Straße.
Im dichten Staub konnte er nicht sehen, dass die Kolonne stehen geblieben war und fuhr
so in den Tod. Meine Mutti und ich hatten zu diesem schönen Mann eine besondere
Beziehung. Sein Tod traf uns schwer. In meiner Schatzkiste hütete ich Rosenöl
aus Bulgarien, das er mir von dort geschickt hatte. Mit meinen Schätzen war das so eine Sache.
Jedes von uns Kindern hatte eine Lade in einem Schubladenkasten. Meine Lade war die unterste.
Mein Bruder Hans hatte die vorletzte. Wenn Besuch kam und wir Schokolade, Kekse oder
etwas Geld bekamen, wanderte alles in meine Lade. Ich war Sparmeisterin.
Wenn Hans sah, was ich alles in meiner Lade hatte, schaute er ganz entgeistert:
„Wie machst du denn das“? Bei ihm war alles sofort weg.
Bruder Hans
In vielen Belangen waren mein Bruder Hans und ich verschieden. Meine Eltern gaben ihm die
Beschützer Rolle für mich „Pass auf die Mausi gut auf“ hieß es immer wieder. Wenn er Schläge
bekam, hätte ich ihn gern beschützt, wenn es mir möglich gewesen wäre. Ich glaube, meine
seelischen Schmerzen waren dabei größer als seine physischen.
Hans war Muttis Verbündeter. Er hatte die Liebe dieser schönen, starken Frau hinter sich,
während ich wie ein hässliches Entchen, ungewollt und nur schwer angenommen in
die Familie gepurzelt kam. Hans tat Dinge, die ich mich nicht zu tun getraut hätte.
In Rohrbrunn hatten wir einen schmalen Gemüsegarten entlang der Hausmauer.
Der Weg zu den Erlen ging dort vorbei. Im Sommer standen die Tomaten in einer Reihe.
Jede Pflanze an einen Stock gebunden, gut gepflegt und gehegt. Jeder der dort vorbeiging, beobachtete das Gelb- und Rotwerden der Früchte.
Mein Vati, der Gartenfachmann, war ratlos: „Was hat nur die eine Pflanze, die ganz rechts
im Winkel steht? Die unteren Blätter werden gelb.“ Auch Mutti wusste keinen Rat.
Da bekam Bruder Hans einen roten Kopf und stotterte: „Wenn ich am Garten vorbeigehe
und aufs Klo muss, dann dünge ich diesen Tomatenstock.“Diesmal gab es keine Schläge.
Pubertät
Hans und ich waren zu Kriegsende in der Pubertät. Die körperliche Umstellung machte
mir zu schaffen. Meine erste Regel bekam ich unvorbereitet und überraschend in der Nacht.
In der Früh schrie Bruder Hans ganz laut: „Schaut, die Mausi hat einen ganz roten Popo!“
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Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, dass Mutti und ich ein Gespräch unter Frauen
geführt hätten. Aus irgendeinem Grunde kam es nicht dazu. Meine Mutti war gleich verunsichert wie ich. Heute, nach der sexuellen Revolution, kann niemand mehr nachempfinden, dass
darüber kein Gespräch möglich war. Die Pubertät trieb seltsame Blüten. So hatten wir
Wochen mit lachhysterischen Ausbrüchen. Zum Abschluss des Abendessens gab es immer einen
Becher Milch. Bei einem Lachanfall kam mir Milch aus der Nase. Das Stichwort „Milchleitung“
war jeden Abend Anlass für eine Wiederholung. Ich hätte nicht erwartet, dass meine Eltern
diesem Treiben so gelassen zusahen. Vielleicht, weil es in dieser Zeit nichts zu lachen gab.
Es waren die letzten Kriegswochen. Da kam für Bruder Hans die Einberufung zur SS. Hans war
für seine 16 Jahre sehr groß gewachsen. Solchen Burschen wurde automatisch eine SS- Uniform
verpasst. Meine Mutti ließ sich etwas einfallen: Sie überredete einen bekannten Arzt,
Hans zu einer Blinddarmoperation zu schicken. So entkam er dem möglichen Heldentod in den letzten Kriegstagen. Vom Krankenhaus zurück, stieg Hans täglich auf einen Sessel und holte sich von
der Oberseite des Kleiderkastens Staubreste und drückte sie in die Wunde, dass sich diese
nicht zu schnell schließen sollte.
Flucht vor den Russen
Ostern 1945! Deutsche Soldaten waren auf dem Rückzug von der Ostfront und waren in jedem Winkel unseres Dorfes einquartiert. Einer der Offiziere schilderte das Nachrücken
der Russen, alle Mädchen seien gefährdet, Opfer von Vergewaltigungen zu werden.
Dies war ausschlaggebend, dass meine Eltern das Angebot noch in dieser Nacht zu flüchten,
annahmen. Wir waren drei gefährdete Mädchen. Ich, 15 Jahre alt, Rosl, Muttis Firmling, 16 Jahre alt und Bärbel das Flüchtlingsmädchen aus Siebenbürgen, 17 Jahre alt.
Innerhalb einer Stunde sollte jeder von uns seinen Rucksack mit dem Nötigsten packen.
Ich stand ratlos vor meinen Kleidern und Habseligkeiten. Was war wichtig? Ich hatte keine
Erfahrung und ließ fast alles, was wertvoll und kostbar war, zurück.
In der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag 1945 saßen wir auf einem Lastwagen zwischen
deutschen Soldaten. Wir wunderten uns, warum wir auf Feldwegen unterwegs waren.
Die Antwort war: „Auf den Hauptstraßen sind schon die russischen Fahrzeuge."
Irgendwie kamen wir bis Steinnach- Irdning. Am Bahnhof wurden wir abgesetzt. Unser Ziel war
Hilzham in Bayern. Dort hatte Muttis Bruder, Onkel Hans, ein Landgut mit einem großen
Haus. Als wir ankamen, war das Haus schon voll mit Flüchtlingen. In einer Mansarde unter
dem Dach fanden wir zehn Personen notdürftig Unterkunft.
Auf dem Gut gab es zwei Pferde: Max und Moritz. Meinem Bruder und mir wurde erlaubt zu reiten.
Die Pferde taten fast nie das, was wir von ihnen wollten. Trotzdem war das Reiten unbeschreiblich schön! Täglich um die Mittagszeit verschwand Tante Friedl mit einem Korb unter dem Arm im nahen
Wald. Ich konnte mir die bedeutungsvollen Blicke, die sie begleiteten nicht erklären.
Erst später kam ich dahinter, dass mein Onkel desertiert war und sich im Wald versteckt hielt.
Dann kam der Tag der „Befreiung“.
Kriegsende
Wir rechten Heu entlang der Straße. Da rollten viele Panzer und Lastwagen daher.
Meine Tante rannte ins Haus und hängte ein weißes Leintuch aus dem Fenster. Wir standen wie erstarrt da. Was tut man, wenn schwarzhäutige Amerikaner das Land in Besitz nehmen?
Wir standen einfach nur so da. Einer der Schwarzen grinste und warf uns Orangen zu.
Orangen gab es in den Kriegsjahren nicht zu kaufen. Es war für uns wie Weihnachten!
Das Eis war gebrochen. Wir lachten zurück und winkten.
Nun war der Krieg endgültig vorbei. Wir machten uns auf, um in das von Russen besetzte
Rohrbrunn zurückzukehren. Wir kamen in ein verwüstetes Haus.
Mein Vati, der begeisterte Imker, hatte 1944 eine Honigernte, die alle Rekorde brach.
Von den 200 kg Honig, die wir am Dachboden versteckt hatten, war nichts mehr da.
Auch sonst war alles geplündert und verwüstet. Das kostbare Bild von Rudolf
Szyszkowitz, das Mutti mit Sohn Hans bei der Taufe darstellte, war noch da. Den Wert dieses
Originals hat niemand erkannt. Löcher im Bild zeigten, dass darauf geschossen worden war.
Österreich war in Besatzungszonen eingeteilt. Die Grenze verlief hinter unserem Haus.
Wenn wir in die Schule wollten, mussten wir den Viersprachenausweis vorweisen.
Einmal hatte einer von uns den Ausweis vergessen. In kindlicher Unbekümmertheit
zogen wir die Schuhe aus und wateten durch den Bach, der Grenze war. Da schrie ein
russischer Grenzposten schon und drohte uns mit dem Gewehr. Wie Verbrecher wurden wir
vor den Kommandanten geführt. Unser Vati löste uns aus. Wir mussten versprechen,
so etwas nie wieder zu tun. Ich vermute, beim nächsten Mal hätte der Grenzposten
scharf geschossen.
Papa Anderle
Langsam kam der Schulbetrieb ins Laufen. Mein Klassenvorstand, Theodor Anderle
unterrichtete Mathematik und Physik. Bei Prüfungen war er sehr streng. Privat war er
jedoch ganz anders. Er forderte uns auf „Papa Anderle“ zu ihm zu sagen. Ich gab ihm mein
Stammbuch. Er klebte mir zwei Edelweißblüten hinein und schrieb dazu das Gedicht von Heinrich
Heine:„Du bist wie eine Blume, so hold, so schön, so rein. Ich schau dich an und Sehnsucht schleicht
mir ins Herz hinein. Mir ist, als ob ich die Hände aufs Haupt dir legen wollt, betend, dass Gott dich erhalte so schön, so rein, so hold.“
Ich war gerührt und stolz. Meine Schulfreundinnen sagten: „Das ist ja eine Liebeserklärung!“
So war es dann auch. Später, an meinem 20. Geburtstag, sprach Dr. Anderle bei meinen Eltern
vor und hielt um meine Hand an. Damals war ich aber schon verlobt.
Papa Anderle war ein begeisterter Bergsteiger. Bei der Zeugnisverteilung sagte er: „Ich möchte
in den Ferien mit euch eine Bergwanderung machen, wer dabei sein darf,
am 10. August um elf Uhr am Bahnhof in Fürstenfeld.“
In diesem Sommer erkrankten viele Kinder an der Kinderlähmung. Deswegen durften die
meisten nicht mit. Zu dritt waren wir am Bahnhof, Papa Anderle, ein Schüler und ich.
Wir fuhren bis Ratten und wanderten zuerst zu Roseggers Waldheimat.
Bei jeder Steigung keuchte und hustete ich stark. Ich dachte: „Das schaffe ich nie!“
Als Kind hatte ich eine Tuberkuloseansteckung. Vati und Mutti hatten beide
Lungentuberkulose und waren wochenlang auf Heilkur. Ich wollte nach Hause
fahren, aber das war den beiden nicht recht. Wir gingen langsam mit vielen Pausen.
Bald besserte sich mein Zustand und ich bekam Kondition. Von der Waldheimat über die
Veitsch auf den Hochschwab, durch die Frauenmauerhöhle nach Eisenerz ging unsere
zweiwöchige Wanderung. Den tiefsten Eindruck machte die Frauenmauerhöhle.
Am Abend mit Fackeln hinein, Kaffeekochen um Mitternacht im „Dom“. In der Morgendämmerung
hinunter nach Eisenerz. Das laute Röhren der Hirsche begleitet unseren Abstieg. Viele Jahre
zog es mich in die Berge, wenn es Herbst wurde. Der Speikduft auf den Almen und die klare
leichte Luft machten mich froh. Papa Anderle war ein Gentleman. Mit keiner Geste, mit
keinem Wort deutet er an, dass er mich begehrt.
Zurück nach Mettersdorf
Ganz unerwartet wurde der Direktorposten in Mettersdorf wieder frei. Wir übersiedelten
Wieder einmal. Das erbsengrüne Zimmer in Graz hatte mich wieder. Meine strenge Tante war
nicht mehr so furchterregend wie früher. Sie behandelt mich fast freundschaftlich.
Ein Krebsleiden, an dem sie später starb, hatte sie verändert. Tante Hilde war ein sehr
kreative Frau. Sie konnte dichten, zeichnen, nähen und vieles mehr. Meisterlich waren
die Kasperlfiguren, die sie nähte.
Professor Parizek
Ich schloss mich einer Jugendgruppe an, die von einem jungen Kaplan Names Parzek
geleitet wurde. Jeden Morgen hatten wir Heimstunde. Ich war mit Feuer und Flamme
bei allen Veranstaltungen dabei. Jetzt endlich konnte ich aussprechen was mich innerlich
beschäftigt. Beim Maskenfest zu Fasching bekam ich als Hexe den ersten Preis.
So toll hat mich Tante Hilde hergerichtet.
In den Weihnachtsferien gab es einen Schikurs. Mein Vati konnte mich gar nicht verstehen
„Hat dich dieser Kaplan verzaubert“, fragte er. Es war auch schwer zu verstehen, denn zwei
Tage vor der Abreise kam Bruder Wolfgang zur Welt. Ich war im Zwiespalt,
aber der Schikurs siegte.
Schifahren fiel mir schwer. Nur einmal bekam ich für eine tolle Abfahrt ein Riesenlob.
Das machte mich übermütig- ein Stern und abgebrochene Holzschier waren das Ergebnis.
Weihnachten 1948 wurde Wolfgang geboren und nach der Geburt erholte sich Muttis Herz
nie mehr. Sie verbrachte viele Monate in der Medizinischen Abteilung im LKH Graz. Wir
gewöhnten uns daran, dass Mutti schwerherzkrank war.
Matura
Ich machte Matura. Einen ganzen Nachmittag weinte ich. Mir war, als sei ich wie ein
Kleiner Vogel, aus dem Nest gefallen. Ich fühlte mich so geborgen zwischen
Lehrern und Schülerinnen, die mich kannten. Im nächsten Schuljahr besuchte
ich den letzten Jahrgang der Lehrerbildungsanstalt Hasnerplatz.
Verlobung
In diesem Jahr lernte ich Hans kennen. Zu Weihnachten kam ein altes Krippenspiel
zur Aufführung. Hans war Josef und ich Maria. Von allen Seiten bekamen wir zu hören,
welch ideales Paar wir seien. Wir kamen uns näher und waren heimlich verliebt.
Ich weiß gar nicht mehr wie es kam, plötzlich war ich verlobt.
Wir bekamen beide eine Lehrerstelle. Meine war in Siebing, in einer zweiklassigen Schule.
Ich liebte meine Schüler und meine Schüler liebten mich. Es war ein guter Start
ins Berufsleben. Hans und ich schrieben uns täglich Briefe. Mir ging es gut dabei.
Ich legte all meine Romantik in die Briefe. Körperliche Nähe aber begann ich zu fürchten.
Ich hatte Körperkontakt nie erlebt und kaum gesehen. Ich war unglücklich und verwirrt.
Ich flüchtete mit schlechtem Gewissen aus dieser Beziehung und löste die Verlobung.
Muttis Tod
Im Januar 1951 brach über unsere Familie ein schweres Unglück herein: Unsere Mutti starb.
In großer Panik, ich könnte meine Mutti nie mehr sehen, fuhr ich mit dem Fahrrad 60 km
durch die eisige Winternacht. Ich kam zu spät, sie lebte nicht mehr.
Ich war daran gewöhnt, dass Mutti herzkrank war. Dass sie aber sterben könnte,
lag außerhalb des Vorstellbaren. Ich konnte es nicht fassen und weinte stundenlang.
Ohne ein vertrautes Gespräch, das ich mir ein Leben lang gewünscht hatte, war sie gegangen.
Unsere Mutti hinterließ ein riesiges Loch. Auch wenn sie nicht immer anwesend war,
gab uns ihre Existenz doch ein großes Maß an Geborgenheit. Ihr Tod ist heute noch als tiefe Erschütterung fühlbar. Mir war, als ob ich meine Wurzeln verloren hätte. Ich schwebte im
luftleeren Raum. Im nächsten Schuljahr wurde ich nach St Peter versetzt. Ich plagte
mich mit einer riesigen und schwierigen Klasse.
Ehe
Da gab es einen Lehrer, der mir gefiel. Er sollte mein Ehemann und Vater unserer
sechs Kinder werden. Nach außen hin führten wir ein erfolgreiches Leben. Nur meine
kindliche Seele kauerte sich zusammen und weinte. In meiner Schulzeit in Graz stand
ich immer sehr lange vor den beleuchteten Auslagen der Möbelgeschäfte. Zwei gepolsterte
Sessel unter einer Stehlampe lösten bei mir stets Sehnsucht nach Zweisamkeit aus.
Mit meinem Liebsten unter einer solchen Lampe zu sitzen, das stellte ich mir als wunderbares Eheglück vor. Dieser Traum eines Mädchens hatte mit der späteren Realität nichts zu tun.
Was hatte ich mir doch für einen schwierigen Lernpartner gesucht. Immer wieder fühlte
ich mich überrumpelt. Ich wollte mir mit der Entscheidung zur Ehe Zeit lassen, doch er hatte
schon alles in die Wege geleitet. Wenn ich mich getraut hätte, wäre meine Antwort
am Altar "nein" gewesen. Wir kauften ein Haus. Im Laufe der Jahre verwandelte ich den Garten
in ein Paradies. Meine Mutter gebar sechs Kinder: Sohn, Tochter, Sohn, Tochter, Tochter,
Sohn. Ich gebar sechs Kinder: Sohn, Tochter, Sohn, Tochter, Tochter, Sohn.
So sehr trat ich in die Fußstapfen meiner Mutter!
Unsere sechs Kinder
Für jedes unserer sechs Kinder habe ich bei der Geburt ein Tagebuch mit Fotos
begonnen. Walter, unser erster, wurde ständig fotografiert und bekam die meiste
Beachtung. Die Geburt, drei Wochen zu früh, war für mich ein Horror. Ich hatte
keine Ahnung, wie man das macht, dass sich der Körper nicht durch die Schmerzen
verkrampft. Die Hebamme rauchte draußen im Gang. Ich hörte sie sagen:"Da drinnen
habe ich eine Schreierin." Bei den nächsten Kindern hatte ich schon Übung, ein
Kinderspiel im Vergleich.
Ein Jahr und drei Monate später kam Tochter Brigitte zur Welt. Irgendwie schlich
sich bei uns die Gewohnheit ein, dass ich den Sohn am Schoß hatte und der Vater
seine Tochter. Wenn ich heute noch einmal in dieser Situation wäre, würde ich
gegensteuern. Mutters Sohn und Vaters Tochter, das bringt keinen Segen.
Sohn Peter war ein Sorgenkind. In der Schwangerschaft hatte ich die asiatische
Grippe mit sehr hohem Fieber. Peter lernte spät laufen und sprechen. Viele
Beobachter unserer Familie sagten: "Wo habt ihr denn dieses Kind her? Es schaut
keinem von euch ähnlich“. In seiner Jugend konnte Peter stundenlang in tiefer
Meditation im Lotussitz sitzen. Er sah aus wie ein Heiliger. Wir bewunderten ihn sehr.
Tochter Eva hatte ein Gesicht wie ein kleiner Engel. Sie war brav und unkompliziert.
Ich war für dieses Geschenk sehr dankbar. Mit Tochter Ursula und Sohn Martin wurden
wir zur Großfamilie. Irgendwie wurde es einfacher. Tagebucheintragungen und Fotos
wurden seltener. Dafür wurde der Geschwisterzusammenhalt stärker.
Ursula war durchsetzungsstark. Wenn Eva jammerte: "Ich wünsche mir einen Hund",
war ich taub. Wenn Ursula sich einen wünschte, war er eine Woche später da.
Die letzten beiden Kinder bekamen Ehekrise und Scheidung am stärksten zu spüren.
Vielleich wurden sie gerade dadurch selbständiger und souveräner.
Erste Visionen
Für mich begann ein ausgeprägtes Doppelleben. Nach außen hin waren wir erfolgreiche
Doppelverdiener. Wir hatten gesunde, hübsche Kinder und konnten uns Urlaub am Meer
leisten. Innerlich suchte ich verzweifelt nach etwas, von dem ich nicht wusste,
was es war. War es immer noch mein Phantasiereich?
Ich wandte mich der Religion zu und suchte dort Trost.
Da begann etwas, was sich bis heute entwickelt und verstärkt hat: Ich wurde fühlig.
Einmal ging ich abends zu einer Feier. Obwohl ich allein auf der Straße ging, war
es mir, als ginge jemand neben mir. Diese Anwesenheit spürte ich so stark, als
könnte ich die Hand ausstrecken und ihn berühren. Heute kenne ich solche
geistigen Führer und Begleiter bei Namen.
Eines Tages fühlte ich nicht nur, ich wurde hellsichtig.
Es war bei einem Workshop in Andritz bei der Lorbeerquelle. In der Mittagspause
setzte ich mich ans Wasser und schaute den Fischen und schwankenden Wasserpflanzen zu.
Da lag, weißgekleidet, Maria im Wasser. Ich war zutiefst erschrocken.
Jahrelang erzählte ich niemandem von dieser Erscheinung. Einerseits hatte ich Angst
den Verstand zu verlieren, andererseits wollte ich nicht als verrückt gelten.
Ich war eingespannt in Unterrichten, Kinderkriegen, Kinderbetreuung, Haus-und
Gartenarbeit. Ich machte Zusatzprüfungen für Sonderschule und Sprachheilkunde.
Zwischen drei und sechs Uhr morgens war meine Lernzeit. Ich glaube, ich habe
mich damals mit Aktivitäten betäubt, um nicht mein Herz weinen zu hören.
Meine Seele wollte fliegen, sich in den Baumwipfeln jubelnd wiegen und im Mondlicht
ekstatisch tanzen.
Verliebt
Plötzlich war da ein braungebranntes Gesicht, das mich anlachte. Wie ein Märchenprinz
stand er vor mir. Jeder Tag bekam Glanz. Jetzt wusste ich, was ich so verzweifelt
gesucht hatte: dass meine Seele eine Tür öffnet, um eine liebende Seele zu berühren.
Die Umstände ließen es nicht zu, dass wir unsere Liebe hätten leben können. Lange,
lange Zeit brachte ich meine Seelentür nicht mehr zu.
Scheidung
Unsere Ehe zerbrach. Mein Ehemann zog aus und suchte sich eine andere Frau. Ich glaube,
ich hatte Beruf, sechs Kinder, Haus und Garten ganz gut im Griff. Die widrigen Umstände,
die ich als Kind schon erlebt hatte, lehrten mich auch jetzt zu überleben. Wenn ich ein
Formular auszufüllen hatte und bei Familienstand "geschieden" ankreuzen musste, wäre ich
am liebsten im Boden versunken. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass ich eine Eheversagerin war.
Zum Teil war damals eine Geschiedene eine Außenseiterin, zum Teil machte ich mich selbst dazu.
Das Leben machte mich müde. Wenn ich ein Foto von mir sah, erschrak ich,
ich sah eingefallen und krank aus.
Tiere
Die älteren Kinder kamen ins Studium. Die jüngeren verlegten sich auf Tierfreundschaften.
Stundenlang dressierten sie unsere Hasen. Ein Steinhuhn spazierte regelmäßig in die Küche
und bettelte um Reis. Eines Tages musste ein Hund ins Haus. Ich wehrte mich lange.
Die kleine Daisy war aber so liebenswert, dass sie sofort alle Herzen eroberte. Für über
zehn Jahre war sie meine treue Begleiterin. Sie verabschiedete sich nach ihrem Tod von mir
durch freundliches Bellen.
Mein ältester Sohn Walter absolvierte die Kunstgewerbeschule in Graz und ging für die
Meisterprüfung nach Hallstatt und Mondsee. Dort lernte er seine spätere Frau Grete kennen.
Die beiden sahen auf einem Campingplatz einen Mann, der ein kleines Affenmädchen
zum Kauf anbot. Diese kleine Meerkatze landete bei mir. Sie hieß Josefine, Josy, und brachte unser ganzes Familienleben in Aufruhr. Alles drehte sich nur mehr um dieses Äffchen. Ohne Zuwendung
machte Josy solch einen Wirbel, dass ich einfach nachgab. Ich steckte sie unter meinen Pullover.
Siegessicher schaute sie beim Halsausschnitt heraus und machte meine Kinder eifersüchtig.
Josy machte mir mehr Arbeit als ob ich Zwillinge bekommen hätte. Und doch liebten wir dieses
rührende Wesen. Ihre Finger waren zierlich mit Fingernägeln, ihre geschlossenen Augenlider ganz blau. Viele selige Stunden bereitete ich Josy, wenn ich mit ihr lange Waldspaziergänge machte.
Ich spürte ihre unbändige Sehnsucht nach Freiheit. Genussvoll sprang sie von einem Baum zum anderen. Einkaufengehen liebte Josy sehr. Unter meinem schwarzen Wetterfleck saß sie auf meinem Arm und streckte den Kopf oben heraus. Wenn sich jemand näherte, fuhr Josy mit ihrem dünnen Arm heraus und zwickte. Sie fauchte laut. Pelzkappen konnte sie überhaupt nicht leiden.
Vielleicht erinnerte sie sich an Wildkatzengefahr in Afrika. Im Garten hatten wir eine Voliere, dort konnte sie weite Sprünge machen. Einmal kam ich mit meiner Schulklasse. Zu meiner Warnung: „Geht nicht zu nahe ran!“, lachten meine Schüler nur. Plötzlich fuhr der dünne Arm durch das Gitter
heraus und packte einen blonden Schopf. Josy fauchte und war sehr aufgeregt. Sie hatte
nicht im Sinn, diese Haare jemals wieder loszulassen. Ablenkungsmanöver und Süßigkeiten konnten sie nach langer Zeit dazu bewegen. Wenn Josy wirklich aggressiv war, wurde sie lebensbedrohlich. Mein Jüngster spielte am Grashang mit seinen Machboxautos. Er legte Schienen bergab und ließ seine Autos hinuntersausen. Josy war frei und packte die Autos. Martin wollte sich das nicht
gefallen lassen und kämpfte um seine Autos. Da fiel Josy den Fünfjährigen an und
zerfleischte seinen Unterarm. Mit 36 Nähten musste die Wunde genäht werden.
Josylein, das war dein Todesurteil. Ein Jäger aus der Nachbarschaft gab ihr den Todesschuss.
Mir war, als hätte ich ein Kind verloren. Ich weinte und trauerte lange. Erst als ich mir die
Geschichte von Josy von der Seele geschrieben hatte, konnte ich mich beruhigen. So haben
mir Tiere diesen Lebensabschnitt geprägt. Kinder, Tiere, Unterricht, Haus- und Gartenarbeit
bildeten damals den Inhalt meines Lebens.
Schicksalsjahr Tschernobyl!
Zweimal regnete es Verderben vom Himmel. Einmal erlebte ich es ganz bewusst. Ich stand
im Zimmer, alle Fenster und Türen waren geschlossen. Da begann es zu regnen. Jede
meiner Körperzellen erstarrte in der alles durchdringenden Atomstrahlung.
Nachts hatte ich Visionen und kam mit einer Hyperventilation ins Krankenhaus.
„Außer Psychopharmaka haben wir nichts für sie“ war die Antwort der Ärzte.
Mit einer Depotspritze kann ich nach Hause. Meine Motorik war so blockiert, dass ich nur
mehr, wie eine 90- jährige, mit kleinen Schrittchen gehen konnte. Mit diesem Zustand
wollte und konnte ich mich nicht abfinden. Ich ließ alle Medikamente weg, lieber wollte ich
durchs Feuer gehen! Alles Vergessene und Verdrängte, alles Nichtgeliebte stürzte über mich herein.
Meine Hellsichtigkeit explodierte. Während ich Geschirr abwusch, lief vor meinen offenen
Augen ein Film ab. Meistens sah ich mich in einem früheren Leben
Mein geistiger Weg
Ich suchte Hilfe. Ich klapperte Psychologen und Therapeuten ab, lernte Yoga und Autogenes
Training. Einmal kam ich zu einem Vortrag eines Psychologen. Ich konnte meine Augen
nicht mehr von seinem Gesicht abwenden. Das Wesen hinter diesem Gesicht kannte ich.
In einem Channeling wurde mir das abenteuerliche Vorleben geschildert, das ich mit diesem Mann hatte. Ich war offen für Naturwesen, Nymphen, Wassermänner, Höhlenwesen, Blumenseelen
und dergleichen. Sie zeigten sich mir und ich malte sie. Es tat sich mir eine Welt auf, die schillernd,
humorvoll und überraschend war. Große Disziplin war notwendig um die „Geister“ zu unterscheiden. Meine Innenwelt zeigte sich als reparaturbedürftig. Jetzt galt es,
dort zuerst Ordnung zu machen und die äußeren Aktivitäten zurückzustellen. Das klingt sehr
einfach. Das war es aber nicht. Mitleidlos wurde mir gezeigt, dass ich ein halbes Jahrhundert im Außen gelebt hatte. Alle Wünsche, die von anderen kamen, waren mir wichtiger, als
meine inneren Bedürfnisse. Es war ein Erwachen, das mich durchschüttelte. Meine heile Welt der religiösen Vorstellungen wurde zuerst weggefegt. Ich fand Bücher, die in die gleiche Kerbe schlugen. Ich hatte das Bedürfnis diese Bücher voll Zorn in die nächste Ecke zu schleudern. Wie ein gesprengtes
Gebäude brach mein Kinderglaube in sich zusammen. Alles was ich als Ersatz fand, roch nach Sekte.
Ich reiste zum Wesakfest nach Kalifornien. Am heiligen Berg Mount Shasta trafen sich
1500 Lichtarbeiter aus allen Kontinenten. Drei Tage meditierten wir dort. Die hohe Schwingung
war spürbar. Fast alle Personen, die sich eine Aurafotografie machen ließen, hatten einen
hellen Schein um den Kopf. Mein Englisch war zu dürftig um dem gechannelten Wortlaut der aufgestiegenen Meister zu folgen. So saß ich einfach nur da und ließ geschehen.
Da kam ein junges, lachendes Gesicht auf mich zu. Sein Blick war reine Liebe. Es war nicht zu unterscheiden, ob das Wesen männlich oder weiblich war. Seither weiß ich, was
androgyn ist. Den Blick dieses Wesens- ich ordne es der Ebene der Erzengel zu- spüre ich
in mir. Der Zugang zu dieser Eben wurde zum Mittelpunkt meines neuen Lebensabschnittes.
Dafür nahm ich alle Mühen in Kauf. Es gelang mir immer leichter, den Vorhang wegzuziehen
und die Realität hinter der Realität zu sehen. Plötzlich erkannte ich, dass das, was ich als
Unglück oder Schicksalsschlag ansah, eine ungeheure Chance in sich trug.
Für Therapeuten war ich interessant, weil ich so eine starke mediale Seite hatte. Es gab
einige Episoden, durchwegs mit Hindernissen, aber ich lernte mich dadurch kennen.
Manche Seiten an mir überraschten mich sehr.
Meine Lehrer
Unter den vielen Seminarleitern und Therapeuten gab es einige wirkliche Lehrer.
Die haben meine Entwicklung entscheidend geprägt. Große Verehrung empfand ich für Günther,
der mich, über viele Jahre hinweg, bis zum „Traummaster“ führte. Durch ihn lernte ich den
treuesten Gratistherapeuten kennen: meinen Traum! Bei Nora lernte ich die Hawaiianische
Tempelmassage „Lomi Lomi“. Diese lebendige, dynamische Frau war für mich ein ganz großes Vorbild. Als wir in Ecuador bei den Inkapyramiden waren, spürten wir beide, dass wir schon einmal gemeinsam hier waren. Ich entdeckte ganz starke Massageenergie in mir. Bei einer Meditation
sah ich zwei riesige, weiße Seerosen auf meinen Händen. Nora war für mich eine
Seelenschwester. Vom Wesakfest schickte ich ihr Liebensenergien. Sie kam in die Räume
ihres Zentrums und sah diese Energie in Gold und Blau unter der Decke hängen. Solche
Experimente liebten wir! Ihre Persönlichkeit sah ich als lichtsprühende Lilienblüte.
Langsam wurde meine so sehr suchende Seele satt. Nach dem Traummaster und der
Massageausbildung entschloss ich mich zur Ausbildung zum „Intuitiven Persönlichkeitsberater“.
Dort begegnete ich wieder der autoritären Vaterfigur und wollte flüchten. Doch mein
Durchhaltevermögen hat gesiegt. Ich danke mir fürs Durchhalten und meinen Lehrern für den
ausgezeichneten Unterricht. Ich habe bei dieser Ausbildung das Wesentliche gelernt. Darunter
meine Schattenanteile zu erkennen, sie anzunehmen und durch Liebe aufzulösen.
Ich lernte meinen Lichtkörper aufzubauen und zu aktivieren. Ich wurde immer sicherer im Readen, im Lesen von Energien in der Aura und im Körper. Ich suche nicht mehr. Ich habe gefunden,
was mir entspricht.
Mit Christian in Tibet
Ganz unerwartet kam doch etwas Neues in mein Leben. Ich blätterte im Günthers Seminarprogrammheft. Da elektrisierte mich das Wort "Tibet". Unter Fremdseminar wurde Christians Reise nach Tibet angekündigt. In der gleichen Sekunde wusste ich: „Dort muss ich hin!“
Was war nur zwischen Christian, dem Reiseleiter und mir? Jeder Briefkontakt, jedes
Telefongespräch machte mich jubeln. Ich konnte ihn sehen, obwohl ich noch nie ein
Bild von ihm gesehen hatte. Am 14. September, meinem 68. Geburtstag, flogen wir ab.
Es waren die unglaublichsten Wochen meines Lebens. Was ich nur aus der Literatur kannte,
das Erlebnis der Einheit, wurde mir zuteil. Nach der Landung in Lhaasa fuhren wir mit
dem Bus ins Hotel. Ich streckte meine Hand aus dem Fenster, um diese einmalige Luftenergie
auf meiner Hand zu spüren. Ich sah auf den Berg. Der Berg war ich. Ich sah ins Wasser.
Was Wasser war ich. So erlebte ich die volle Identifikation in dem Land Tibet.
Nach meinem heutigen Wissen war meine erste Inkarnation in Tibet. Dort war ich beim
Aufbau der Lehrstätten beteiligt. Von vielen gemeinsamen Leben kannte ich Christian.
Mein Herz flog ihm zu und seines antwortete. Wir hatten einen gemeinsamen Herzschlag.
Wenn wir aneinander dachten, spürte ich, wie unsere Aura zu einer verschmolz. Es war nicht
mehr zu unterscheiden, ob ein Gedanken meiner oder seiner war. Ich bin zutiefst dankbar,
dass ich dieses Wunder erleben durfte.
Vor zwei Jahren ist Christian tödlich verunglückt.
Wieder ließen es die Umstände nicht zu, dass wir unsere Liebe hätten leben können.
Sein Tod traf mich ganz, ganz tief! Lange Zeit konnte ich seine Energie noch spüren und sehen.
Er machte den Versuch durch meine Hand zu schreiben. Er schickte mir eine tiefrote Rose und sprach zu mir. Wie wenig energetischer Unterschied ist doch, ob eine Seele einen Körper hat oder ihn schon
verlassen hat. Christian ging rasch ins Licht. Derzeit ist der Schwingungsunterschied zu groß,
als dass ich ihn noch erreichen könnte.
Im Jahr 1999 starben drei Männer, die in meinem Leben eine große Rolle gespielt hatten:
Im Janur mein Exmann, im März Christian und im Juni mein Vati.
Diese Aufzeichnungen habe ich 2001 geschrieben.
Wie geht es mir heute, 13 Jahre später?
Mein Leben ist ruhiger geworden. Aber immer noch bin ich neugierig und lernbegierig.
Ich habe hunderte Bilder gemalt, hunderte Readings gegeben, Engelsfiguren aus Ton sind entstanden, ich fotografiere und dichte.
Die unvermeidlichen Alterskrankheiten haben mich nicht untergekriegt. Durch Alternativmedizin und
Meditation habe ich mich oftmals selbst am Schopf aus dem Sumpf gezogen.
Meditation und Engelskontakte sind meine tägliche geistige Nahrung.
Das größte Abenteuer kommt noch: den Körper ablegen und in die geistige Existenz zurückkehren.
Bis dahin möchte ich noch viele spannende Bücher lesen, Interessantes googeln, Überraschendes träumen, mich möglicherweise noch einmal verlieben und mein staunendes Herz für die
Wunder des Lebens öffnen.
Ich danke allen, die mir die Ehre gaben, meine "Wachsende Ringe" zu lesen.
April 2014 Angela Stoißer